Freikörperkultur in Deutschland

Nacktbaden in Einigkeit und Freude – Photo: Pälzer

„Bundestag in Stresow, Pommern, an der Ostsee. Nach Frühstück und Morgenandacht (es ist Sonntag) im Wäldchen auf der Düne – hinunter an den Strand! Es ist sehr heiß. Die Kleider herunter und – nein! nicht in die Badehose, sondern wie Gott uns geschaffen – ins Wasser. Schwimmen, planschen, wieder heraus, in den Sand zum Trocknen. Freude am Sich-bewegen, am Laufen und Springen, an Gymnastik und Volkstanz. Es ist so schön, nackt zu sein im warmen Winde, im Licht des klaren Himmels … da marschiert ein Fremder daher, stutzt, guckt, guckt noch einmal, geht weiter, gelangt in unseren Kreis. Keiner von uns flieht etwa. Es war ja natürlich, nackt zu sein. Unpassend in dieser Umgebung war der Fremde mit dunklem Anzug, Bügelfalte und Stehkragen. Er fragt nach unserem ‚Leiter‘. Wir rufen Karl Bückmann. Er kommt, stellt sich, nackt wie er war, einer Auseinandersetzung mit dem Fremden. Nahestehende hören: Recht auf gesunde Nacktheit, anerzogenes Schamgefühl, Klima und Enge des städtischen Zusammenlebens erzwingen Kleidung, schließlich werden noch die alten Griechen bemüht mit ihrem Gymnasion. Den Herumstehenden wird es zu bunt. Sie schließen, natürlich immer ‚ohne‘, einen Kreis um die Debattierenden. Die Jungen markieren ‚bekleidet‘ durch eine Krawatte oder ein Halstuch. Im Kreise umtanzen sie die beiden Gegner unter Absingen eines Liedes. Dem Fremden wird wohl etwas unheimlich vor der nackten Übermacht. Er verläßt kopfschüttelnd die Stätte. Es könnte ‚etwas nachkommen‘, meint mancher und meint damit eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Es kam nichts nach.“

MÜLHAUSE-VOGELER, Therese, Wandervogel und Freikörperkultur, in: der ruf, 10/1963

In dieser Erlebnisbeschreibung von Therese Mülhause-Vogeler, eine der führenden Vertreterinnen der deutschen Freikörperkultur im 20. Jahrhundert und zudem Frankfurter Bürgerin, finden sich exemplarisch die häufigsten Argumente für die Freikörperkultur.

  1. Die Betonung der Natürlichkeit der Nacktkultur („wie Gott uns geschaffen“)
  2. Psychologische Begründungen (Hinweise auf „anerzogenes Schamgefühl“)
  3. Die Stadtflucht und damit einhergehend die Kritik an der modernen Zivilisation
  4. Die Verehrung des „gesunden Körpers“ mit Bezug auf griechische Körperideale

Ursprünge der Freikörperkultur in Deutschland

Die Freikörperkultur kann als Teil der Lebensreformbewegung bezeichnet werden. Ihre Anfänge reichen zurück bis ins ausgehende 19. Jahrhundert. Die Anhänger der Freikörperkultur, die sich anfangs Naturisten nannten, zweifelten – wie auch andere Gruppierungen innerhalb der Lebensreformbewegung – an der Industrialisierung, der Urbanisierung und der aufkommenden Massenkultur. Moderne Arbeitsformen in der Fabrik hatten dazu geführt, dass immer mehr Menschen in die Metropolen zogen. Die Wohnverhältnisse waren oft schlecht, die Städte verrußt. [1]

Vor allem intellektuelle Kreise kritisieren die fortschreitenden Moderne. Unter dem Schlagwort „Lebensreform“ entstanden alternative Bewegungen wie die Naturheilkunde, der Vegetarismus, die (rhythmische) Gymnastik, die Wandervogel-Bewegung und die Nacktkultur. „Zurück zur Natur“ hieß das Motto. Das Wanderlied „Aus grauer Städte Mauern“ von Hans Riedel (vermutlich um 1910) gibt ein Zeugnis:


Aus grauer Städte Mauern

1. Aus grauer Städte Mauern
Ziehn wir durch Wald und Feld.
Wer bleibt, der mag versauern,
Wir fahren in die Welt.

Heidi heido, wie fahren,
Wir fahren in die Welt
Heidi heido*, wir fahren,
Wir fahren in die Welt

2. Der Wald ist uns're Liege**,
Der Himmel unser Zelt.
Ob heiter oder trübe,
Wir fahren in die Welt.

Heidi heido, wie fahren, [...]

3. Ein Heil dem deutschen Walde,
Zu dem wir uns gesellt.
Hell klingt's durch Berg und Halde,
Wir fahren in die Welt.

Pioniere und Vorreiter der Freikörperkultur

Als Pionier der Nacktkultur gilt der Maler Karl Wilhelm Diefenbach. In den 1870er Jahren entdeckte er nach einer Typhus-Erkrankung die Naturheilkunde für sich. Er wurde zum Verkünder einer vegetarisch-naturnahen Lebensweise. In einem Steinbruch in Höllriegelskreuth im Isartal gründete er 1887 eine Kommune nach seinen Vorstellungen: kein Fleisch, kein Tabak, kein Alkohol, kein Privatbesitz, keine bürgerliche Ehe. Zentrales Thema war auch die Nacktkultur. Die Kommune zelebrierte das „Luft- und Lichtbaden“.[2]

Diefenbachs Lebensweise fand rasch Nachahmer. Auf einem Hügel oberhalb des schweizerischen Ascona gründete sich die Künstler-Kolonie „Monte Verità“. Die Freikörperkultur auf dem „Monte Verità“ zog keineswegs nur Menschen mit niedrigem Bildungsstand an. Unter den Gästen waren berühmte Intellektuelle wie der Philosoph Ernst Bloch, der Schriftsteller Gerhart Hauptmann und der Dichter und Schriftsteller Hermann Hesse, der sich nackt vor einem Felsen ablichten ließ.[3]

Im wilhelminischen Deutschland galt die Freikörperkultur jedoch als verpönt. Die „Licht- und Luftbäder“ wurden verboten. Erst nach dem Ersten Weltkrieg durften die Nudisten offiziell Grundstücke anmieten: Es entstanden abgegrenzte und von neugierigen Blicken geschützte Kleingartenanlagen, Campingplätze und Nacktbadestrände.

Gemeinsame Sache, unterschiedliche Motivation: Die politische Seite der Freikörperkultur

Unter den Nudisten fanden sich Menschen nahezu jeden Milieus. So gründete der Pastor Magnus Weidemann das FKK-Magazin „Die Freude. Monatshefte für deutsche Innerlichkeit“. Weidemann verzichtete auf sein Priesteramt und lebte in Sylt von Aktfotografien und Nacktmalereien.[4]

Den Freikörperkultur-Aktivisten war eines gemeinsam: Sie wollten der Enge der bürgerlichen Gesellschaft entfliehen. Dies teilten sie sich mit anderen ReformerInnen wie den Ausdruckstänzerinnen oder den FrauenrechtlerInnen. Als Symbol bürgerlicher Enge galt das Korsett aus dem man sich befreien wollte. Der Nudist Heinrich Pudor publizierte seine Aphorismensammlung „Nackende Menschen. Jauchzen der Zukunft“. Später änderte Pudor seinen Namen in Heinrich Scham und publiziert antisemitische Streitschriften.

Unter den Nudisten bildeten sich bald unterschiedliche Lager: Auf der einen Seite standen die eher links-sozialistische orientierten Reformer, auf der anderen jene völkischen Nudisten, die mit eugenischen Thesen die Nacktkultur unterfüttern wollten. Neben dem Publizisten Heinrich Pudor – alias Heinrich Scham – argumentierten auch der Offizier und Turner Hans Surén sowie der bekennende Antisemit Richard Ungewitter mit rassistischen und eugenischen Argumenten für die Freikörperkultur.

Surén ließ seinen nackten, gestrählten Körper nach „griechischem Ideal“ in Turnerposen ablichten und in einschlägigen Naturisten-Zeitschriften abbilden. Ungewitter schrieb 1910 in „Nacktheit und Kultur. Eine Forderung“:

„Würde jedes deutsche Weib öfter einen nackten germanischen Mann sehen, so würden nicht so viele exotischen fremden Rassen nachlaufen […] Aus Gründen der gesunden Zuchtwahl fordere ich deshalb die Nacktkultur, damit Starke und Gesunde sich paaren, Schwächlinge aber nicht zur Vermehrung kommen.“

Ungewitter, Richard, NACKTHEIT UND KULTUR. EINE FORDERUNG, 1910, S. 130.

Gleichschaltung im Nationalsozialismus und sportliche Ausrichtung

Obwohl einige Vertreter der Nacktkultur später mit dem Nationalsozialismus sympathisierten, wurde die Nacktkultur im nationalsozialistischen Deutschland verboten. Alle FKK-Vereine wurden politisch gleichgeschaltet. Ihre jüdischen und sozialistischen Mitglieder wurden ausgeschlossen. Organisatorisch wurde der neue Reichsverband der NS-Sportorganisation, dem Deutschen Reichsbund für Leibesübungen (DRL), zugeordnet. Somit verschob sich der Schwerpunkt der Freikörperkultur noch stärker auf den Sport als zuvor. Nacktbaden war nur unter Einschränkungen erlaubt.[5]

In der Nachkriegszeit kam es – vor allem in den 1960er Jahren – zur Neugründung zahlreicher FKK-Vereine, die sich unter dem Dachverband „Deutscher Verband für Freikörperkultur e.V.“ vereinten.

Die Freikörperkultur, die sich von Deutschland aus in Europa und vor allem in den USA verbreitete, setzt heute auf internationale Vernetzung. FKK-Anhänger unterschiedlicher Nationen treffen sich zu sportlichen Aktivitäten, FKK-Reisen und Austauschprogrammen. (Julia Preißer)

  1. Vgl. Dorn, Thea; Wagner, Richard, Die deutsche Seele, Albrecht Knaus Verlag, München 2011, S 152 f
  2. Vgl. Ebd. S. 155
  3. Vgl. Ebd.
  4. Vgl. Ebd. S 156
  5. Vgl. Wedemeyer-Kolwe, Bernd, „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, S. 422